Zum Einstieg Lesezeichen hinzufügen

banner
3. März 2023Lesedauer 6 Minuten

Verbandsklagen für Kollektivinteressen – Die EU-Richtlinie und der Entwurf des deutschen Umsetzungsgesetzes

Dieser Artikel wurde zuerst in der Zeitschrift für Product Compliance veröffentlicht und wird hier mit der Zustimmung des Verlags verwendet.

Verbandsklagen für Kollektivinteressen – Die EU-Richtlinie und der Entwurf des deutschen Umsetzungsgesetzes

Die EU-Richtlinie über Verbandsklagen zum Schutz von Kollektivinteressen der Verbraucher vom 25.11.20201 ist bis zum 25.12.2022 von den Mitgliedstaaten in nationales Recht umzusetzen. Die Regelungen der Richtlinie gelten dann ab dem 25.6.2023. Mit Blick auf das nahe Umsetzungsdatum ist der erst seit kurzem verfügbare erste Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie (Verbandsklagenrichtlinienumsetzungsgesetz – VRUG)2 verspätet. Damit ist eine rechtzeitige Umsetzung nicht erreicht worden. Mit der Richtlinie verfolgt die EU den seit mehr als 10 Jahren beschrittenen Weg, Private zur Einforderung von EU-Recht zu berechtigen.

1. Die Regelungen des Entwurfs

In der Sache geht es bei der Richtlinie um eine Compliance-Klage aus Gründen des Verbraucherschutzes. Die Bündelung vieler kleiner Fälle soll wie bei der US-amerikanischen Class Action Klagen gerade dort ermöglichen, wo der Einzelne aufgrund zu geringen Streitwertes davon absehen würde. Zugelassene Kläger, sog. qualifizierte Einrichtungen, können Verbandsklagen gegen Unternehmer wegen Verstößen gegen in Anhang I der Richtlinie enthaltenen Vorschriften des Unionsrechts einschließlich der Umsetzung in nationales Recht erheben. Anhang I enthält derzeit 66 verschiedene Richtlinien und Verordnungen des EU-Rechts, die sämtlich dem Verbraucherschutz dienen. Viele davon regeln produktrechtliche Vorgaben wie bspw. die Produkthaftungsrichtlinie,3 die Lebensmittelsicherheits-Verordnung,4 die Richtlinie zum Verbrauchsgüterkauf5 und die Richtlinie über die alternative Streitbeilegung in Verbraucherangelegenheiten.6 Die EU ermöglicht hiermit Privaten, Verstöße geltend zu machen und sozusagen die Aufgabe der EU-Kommission als „Wächterin der Verträge“ zu übernehmen. Abzuwarten bleibt, ob sich die Anzahl der in Anhang I aufgeführten Rechtsvorschriften künftig erhöht und auf andere als dem Verbraucherschutz dienende Vorschriften ausgedehnt wird.

Das VRUG greift die Beschränkung der Rechtsverfolgung durch Anhang I auf dem Verbraucherschutz dienende Vorschriften nicht auf, sondern öffnet Verbandsklagen gegen Unternehmer in Form der neu eingeführten Abhilfeklage und der bereits bestehenden Musterfeststellungsklage allgemein für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten (§ 1 Abs. 1 VRUG). Diese Regelung ist für die Abhilfeklage überraschend, weil damit dem Compliance-Gedanken der Richtlinie und insbesondere dem Anhang I nicht nachgekommen wird, während dies für die Musterfeststellungsklage passt, die auch bis dato nicht auf einen bestimmten Kanon von Rechtsverletzungen beschränkt war. Damit ist aber unmittelbar die Frage aufgeworfen, ob dies für die Abhilfeklage eine ordnungsgemäße Umsetzung bzw. unzulässige Ausweitung des Rahmens der Richtlinie darstellt. Auf den ersten Blick bestehen Zweifel, da Anhang I seinen Sinn bei dieser Regelung vollständig verliert. Zudem sind die klageberechtigten Stellen verschieden: Während nach der Richtlinie insbesondere Verbraucherorganisationen und optio­nal öffentliche Stellen als qualifizierte und damit klageberechtigte Einrichtungen gelten, sind dies nach VRUG allein qualifizierte Verbraucherverbände (§ 2 Abs. 1 VRUG).

Zulässig sind Abhilfe- und Musterfeststellungsklagen der qualifizierten Einrichtungen, wenn mindestens 50 Verbraucher betroffen sind. Unzulässig sind solche Verbandsklagen, wenn sie von bestimmten Dritten finanziert werden, wie bspw. einem Wettbewerber des verklagten Unternehmers, einem vom verklagten Unternehmer abhängigen Unternehmen und Dritten, von denen zu erwarten ist, dass sie die Prozessführung zulasten der Verbraucher beeinflussen werden (§ 4 Abs. 2 VRUG).

Im Vorfeld des Erlasses der Richtlinie war die Frage des Umfangs der Offenlegung von Beweismitteln heftig umstritten. Das Meinungsspektrum reichte von einer Regelung nach US-amerikanischem Discovery-Vorbild bis zur einfachen Anlehnung an nationales Recht.7 Die Unionsregelung zeigt das harte Ringen um einen Kompromiss. Maßgeblich wird jetzt auf nationales Recht abgestellt. Im VRUG bleibt es deshalb bei den Regelungen zur Vorlage von Urkunden, Akten und Gegenständen nach §§ 142–144ZPO verbunden mit der Möglichkeit der Androhung eines Ordnungsgeldes von bis zu 250.000 EUR durch das Gericht.

Zuständiges erstinstanzliches Gericht ist für beide Formen der Verbandsklage das Oberlandesgericht; es ist sachlich aus-schließlich zuständig (§ 3 Abs. 1 VRUG). Gegen dessen Urteile ist bei Abhilfe- und Musterfeststellungsklage die Revision stets zulässig (§ 16 Abs. 4 VRUG). Durch diese Regelung erhalten Fälle mit geringen Streitwerten durch Zusammenfassung gleich eine obergerichtliche Aufmerksamkeit, die ansonsten nicht gegeben wäre.

Großen Regelungsumfang im VRUG nimmt auch das unionsrechtlich nicht näher geregelte Umsetzungsverfahren im Nachgang zur Abhilfeklage ein (§§ 22ff. VRUG). Dieses Verfahren folgt nach dem Abhilfeendurteil. Ein vom Gericht bestellter Sachwalter hat den an ihn vom verurteilten Unternehmer gezahlten Gesamtbetrag an die Verbraucher auszuzahlen. Dazu kann er sich die Berechtigungsnachweise der Verbraucher vorlegen lassen und bei Gericht beantragen, dass ein Zwangsgeld gegen den Unternehmer verhängt wird, wenn dieser die Erfüllung eines Anspruchs verweigert. Beim Umsetzungsverfahren geht es letztlich um die Verteilung des Gesamtbetrages durch den Sachwalter unter den Verbrauchern, die ihre Ansprüche im Verbandsklageregister angemeldet haben

Zur Finanzierung klageberechtigter innerstaatlicher Verbraucherverbände enthält der Entwurf nur wenige Regeln. Danach dürfen sie nicht mehr als 5% ihrer finanziellen Mittel durch Zuwendungen von Unternehmen erheben (§ 2 Abs. 1 VRUG). Eine solche Regelung findet sich in der Richtlinie nicht mehr. Die Richtlinie verlangt weder für innerstaatliche noch für grenzüberschreitende Verbandsklagen diese Anforderung. Das VRUG regelt zudem, dass Verbandsklagen nicht zum Zwecke der Gewinnerzielung erhoben werden dürfen. In der Richtlinie heißt es dazu, dass die Einrichtungen selbst keinen Erwerbszweck verfolgen dürfen.

2. Ausblick

Unbeantwortet lässt der Entwurf die offensichtliche Frage nach dem Verhältnis von Abhilfe- und Musterfeststellungsklage. Mit der zum 1.11.2018 eingeführten Musterfeststellungsklage kann der klagende Verbraucher vom Unternehmer weiterhin das Vorliegen oder Nichtvorliegen von tatsächlichen oder rechtlichen Voraussetzungen für das Bestehen oder Nichtbestehen von Ansprüchen oder Rechtsverhältnissen begehren (§ 606 Abs. 1 ZPO). Die Abhilfeklage ist dagegen auf Leistung an den Verbraucher, auch auf die Zahlung eines kollektiven Gesamtbetrages gerichtet. Den naheliegenden Gedanken einer Subsidiarität der Musterfeststellungsklage verneint der Entwurf, indem geregelt wird, dass ihrer Zulässigkeit nicht die Möglichkeit der Erhebung einer Abhilfeklage entgegensteht (§ 41 Abs. 2 ZPO).

Beide Formen der Verbandsklage dürften damit in einem Konkurrenzverhältnis stehen. Gemein ist beiden, dass das jeweilige Urteil nach dem ersten Schritt einen zweiten Schritt erfordert: das Umsetzungsverfahren nach dem Abhilfegrundurteil und eine Leistungsklage des Verbrauchers nach einem Urteil aufgrund einer Musterfeststellungsklage. Es wird sich erweisen müssen, welche Klageform einer Verbandsklage Verbraucher als attraktiver ansehen werden.

Abgesehen von dieser Vorausschau bleibt zunächst einmal abzuwarten, mit welchen Inhalten der Entwurf tatsächlich als Gesetz verabschiedet werden wird. Dem Gesetzgeber ist zu raten, die Vereinbarkeit mit der
EU-Richtlinie zu prüfen. Hier dürfte doch fraglich sein, ob die Beschränkung der Geltendmachung von Verstößen durch Anhang I der Richtlinie gar keine Rolle im nationalen Kontext spielen soll. Zu fragen wäre auch, ob es neben der Abhilfeklage in der jetzt vorliegenden Ausgestaltung überhaupt noch einer Musterfeststellungsklage bedarf, da die Überschneidungsbereiche doch beachtlich sind.


RL (EU) 2020/1828 v. 25.11.2020 über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher und zur Aufhebung der Richtlinie 2009/22/EG, ABl. L 409 v. 4.12.2020,1.
RefEntw des BMJ, E eines G zur Umsetzung der RL (EU) 2020/1828 über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher und zur Aufhebung der Richtlinie 2009/22/EG.
RL v. 25.7.1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte, 85/374/EW G, ABl. L 210 vom 7.8.1985,29.
VO (EG) Nr. 178/2002 v. 28.1.2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit, ABl. L 31v. 1.2.2002,1.
RL 1999/44/EG v. 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. L 171v. 7.7.1999, 12.
RL 2013/11/EU v. 21.5.2013 über die alternative Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten und zur Änderung der VO (EG) Nr. 2006/2004 und der RL 2009/22/EG, ABl. L 165v. 18.6.2013,63.
Vgl. Röthemeyer VuR 2021,43; Rentsch EuZW 2021,524.