
10. Juni 2025 • Lesedauer 5 Minuten
Der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung aus dem Nicht-EU-Ausland
Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen aus dem Nicht-EU-Ausland kann der gleiche Beweiswert zukommen wie einer in Deutschland ausgestellten Bescheinigung. Die Prüfung, ob der Beweiswert dieser Bescheinigung geringer ist, erfordert eine Würdigung aller Umstände des Einzelfalls, wie das Bundesarbeitsgericht (BAG) klargestellt hat (Urteil vom 15. Januar 2025, Az. 5 AZR 284/24).
Der Fall
Am 7. September 2022, zwei Tage vor dem Ende des Urlaubs des Arbeitnehmers in Tunesien, teilte er seiner Arbeitgeberin mit, er sei bis zum 30. September 2022 “krankgeschrieben und arbeitsunfähig”. Das angehängte Attest eines tunesischen Arztes vom gleichen Tag, bescheinigte “schwere Ischialbeschwerden” und verordnete, der Arbeitnehmer müsse bis 30. September 2022 strenge häusliche Ruhe wahren und dürfe nicht reisen. Bereits am 8. September 2022 buchte der Arbeitnehmer ein Fährticket für den 29. September 2022 für seine Rückreise von Tunis über Genua nach Deutschland, die der Arbeitnehmer auch antrat. Zurück in Deutschland legte der Arbeitnehmer der Arbeitgeberin eine Erstbescheinigung eines deutschen Arztes vom 4. Oktober 2022 vor, in der Arbeitsunfähigkeit bis zum 8. Oktober 2022 bescheinigt wurde. Die Arbeitgeberin lehnte die Entgeltfortzahlung vom 7. – 30. September 2022 mit der Begründung ab, das Attest vom 7. September 2022 stelle keine geeignete Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dar. Der Arbeitnehmer legte eine erläuternde Bescheinigung des tunesischen Arztes vom 17. Oktober 2022 vor, in welcher dieser die Untersuchung des Arbeitnehmers bestätigte und ausführte, wegen einer beidseitigen Lumboischialgie sei eine Ruhepause mit Arbeitsunfähigkeit und Reiseverbot für 24 Tage vom 7. September bis zum 30. September 2022 erforderlich gewesen.
Der Arbeitnehmer hatte der Arbeitgeberin bereits in den Jahren 2017, 2019 und 2020 insgesamt vier Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen in direktem zeitlichem Zusammenhang mit seinem Urlaub vorgelegt, wobei er sich im Anschluss an den Sommerurlaub 2017 wegen der Entfernung von Nierensteinen in stationärer Behandlung befand. Mit seiner Klage machte der Arbeitnehmer ausstehende Vergütung in Höhe von 1.583,02 EUR netto geltend. Das Arbeitsgericht hatte die Klage abgewiesen, das Landesarbeitsgericht (LAG) dem Arbeitnehmer die ausstehende Vergütung zuerkannt. Hiergegen richtete sich die Revision der Arbeitgeberin.
Das BAG hob die Entscheidung des LAG auf, da die Arbeitgeberin den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 7. September 2022 bzw. 17. Oktober 2022 erfolgreich erschüttert, also in Frage gestellt habe.
Anforderungen an eine Bescheinigung aus dem Nicht-EU-Ausland
Das BAG führte zunächst aus, dass einer im Nicht-EU-Ausland ausgestellten Bescheinigung der gleiche Beweiswert wie einer in Deutschland ausgestellten Bescheinigung zukommt, wenn die Bescheinigung zwischen einer bloßen Erkrankung und einer mit Arbeitsunfähigkeit verbundenen Krankheit unterscheidet. Erfülle eine Bescheinigung aus dem Nicht-EU-Ausland diese Voraussetzungen, kann die Arbeitgeberin die Entgeltfortzahlung grundsätzlich nicht verweigern.
Erschütterung des Beweiswertes durch die Arbeitgeberin
Wie bei einer deutschen Bescheinigung ist es der Arbeitgeberin aber möglich den Beweiswert der Bescheinigung zu erschüttern. Dafür müsse die Arbeitgeberin tatsächliche Umstände darlegen und im Bestreitensfall beweisen, die Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers ergeben. An den Vortrag der Arbeitgeberin dürften jedoch keine überhöhten Anforderungen gestellt werden, weil diese nur über eingeschränkte Erkenntnismöglichkeiten verfügt. Die vorgetragenen Umstände dürften schließlich nicht isoliert betrachtet werden, sondern es sei eine Gesamtwürdigung erforderlich.
Diese Gesamtwürdigung führe laut BAG vorliegend zu einer Erschütterung des Beweiswertes. Dafür spräche zunächst die lange Dauer der Krankschreibung, da die Arbeitsunfähigkeit nach ärztlichen Vorgaben im Regelfall nicht für länger als zwei Wochen bescheinigt werden solle. Auch werde in der Bescheinigung nicht näher begründet, warum diese lange Dauer für die Genesung erforderlich sei. Weiter sei zu berücksichtigen, dass der bescheinigende Arzt trotz der Anordnung strenger Ruhe auf eine Nachkontrolle verzichtet habe. Kein Rückschluss auf die Arbeitsunfähigkeit könne zudem aus der Bescheinigung des deutschen Arztes vom 4. Oktober 2022 gezogen werden, da diese ausdrücklich als Erstbescheinigung ausgestellt worden sei, sodass grundsätzlich von einer neuen Krankheitsursache auszugehen sei. Nicht ausreichend gewürdigt worden sei zudem, dass der Arbeitnehmer bereits am Tag nach Ausstellung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 7. September 2022 ein Fährticket für den 29. September 2022 kaufte, also trotz angeordneter Ruhe bereits zu diesem Zeitpunkt seine 30-stündige Heimfahrt für einen Tag plante, der sich noch im Zeitraum der verordneten Ruhe und des angeordneten Reiseverbots befand. Schließlich seien auch die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen aus den Vorjahren zu beachten. Deren Häufung sei auch nicht dadurch unbeachtlich, dass die Arbeitgeberin diese in der Vergangenheit akzeptiert hatte.
Praxishinweis
Die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall kann nicht automatisch bei Vorlage einer Bescheinigung aus dem Nicht-EU-Ausland verweigert werden. Eine aus dem Nicht-EU-Ausland stammende Bescheinigung ist dann zu akzeptieren, wenn sie die Funktion einer in Deutschland ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erfüllt, also insbesondere zwischen Krankheit und Arbeitsunfähigkeit differenziert. Die Erschütterung des Beweiswertes bleibt aber möglich. Dabei sind alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen. Diesbezüglich ist besonders hervorzuheben, dass auch die Umstände solcher Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen zu berücksichtigen sind, welche die Arbeitgeberin zunächst akzeptiert hatte. Es tritt insofern also keine “Verwirkung” ein. Arbeitgeber sollten jedoch stets sorgfältig prüfen, ob sie von einer Erschütterung des Beweiswertes ausgehen und die Entgeltfortzahlung verweigern. Gerichtliche Auseinandersetzungen über den Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen tragen nicht nur Kostenrisiken mit sich, sondern können insbesondere im Falle einer Häufung das Verhältnis zur Belegschaft und zur Arbeitnehmervertretung belasten sowie Reputationsschäden in der Öffentlichkeit verursachen.


