19. August 2021Gelesene 5 Minuten

Bundesverfassungsgericht – Beschluss vom 08. Juli 2021, 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17 – Verfassungswidrigkeit der Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen mit jährlich 6 %

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in seinem am 18. August 2021 veröffentlichten Beschluss entschieden, dass die Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen in § 233a in Verbindung mit § 238 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (im Folgenden: AO) verfassungswidrig ist, soweit der Zinsberechnung ein Zinssatz von monatlich 0,5 % zugrunde gelegt worden ist.

Aufgrund des einheitlichen Regelungskonzepts des Gesetzgebers beschränke sich die Unvereinbarkeit der Verzinsung nach § 233a AO nicht nur auf Nachzahlungszinsen zulasten der Steuerpflichtigen, sondern umfasse ebenso die Erstattungszinsen zugunsten der Steuerpflichtigen.

Für Verzinsungszeiträume vom 1. Januar 2014 bis zum 31. Dezember 2018 gelten die Vorschriften jedoch fort, ohne dass der Gesetzgeber verpflichtet wäre, auch für diesen Zeitraum rückwirkend eine verfassungsgemäße Regelung zu schaffen. Damit sind diese Zeiträume weder für die Finanzverwaltung noch für den Steuerpflichtigen, was die Zinsen anbelangt, änderbar.

In § 238 AO sind die Höhe und Berechnung der Zinsen für alle Verzinsungstatbestände der Abgabenordnung einheitlich geregelt. Der Zinssatz von 0,5 % pro Monat gilt damit nicht nur für die Berechnung der Zinsen nach dem insoweit mittelbar mit den Verfassungsbeschwerden angegriffenen § 233a AO, sondern auch für die Stundungs-, Hinterziehungs-, Prozess- und Aussetzungszinsen nach den §§ 234 bis 237 AO. Das BVerfG hat die Unvereinbarkeitserklärung im vorliegenden Beschluss jedoch gerade nicht auf die anderen Verzinsungstatbestände nach der Abgabenordnung zulasten der Steuerpflichtigen, namentlich auf Stundungs-, Hinterziehungs- und Aussetzungszinsen nach den §§ 234, 235 und 237 AO, erstreckt. Denn die Steuerpflichtigen haben bei Stundungs-, Hinterziehungs- und Aussetzungszinsen grundsätzlich die Wahl, ob sie den Zinstatbestand verwirklichen und den in § 238 Abs. 1 Satz 1 AO geregelten Zinssatz hinnehmen oder ob sie die Steuerschuld tilgen und sich im Bedarfsfall die erforderlichen Geldmittel zur Begleichung der Steuerschuld anderweitig zu zinsgünstigeren Konditionen beschaffen.

Im Wesentlichen stützt das BVerfG seinen nunmehr veröffentlichen Beschluss auf folgende Erwägungen:

Die Vollverzinsung mit einem Zinssatz von 0,5 % pro Monat für in das Jahr 2014 fallende Verzinsungszeiträume sei nicht mehr erforderlich, mithin unverhältnismäßig, und verstoße deshalb gegen den Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG. Die Vollverzinsung zulasten der Steuerpflichtigen mit einem Zinssatz von monatlich 0,5 % sei zunächst verfassungsgemäß gewesen. Der Gesetzgeber sei dem Grunde nach berechtigt, den durch eine späte Steuerfestsetzung erzielten Zinsvorteil der Steuerpflichtigen zum Zwecke der Verwaltungsvereinfachung typisierend zu bestimmen. Der Gesetzgeber habe im Jahr 1990 aufgrund von Praktikabilitätsgründen an den bereits für die bisherigen Verzinsungstatbestände der Abgabenordnung geltenden § 238 AO angeknüpft. Der Zinssatz habe überdies mit jährlichen Zinsen von 6 % in etwa den insoweit maßstabsrelevanten Verhältnissen am Geld- und Kapitalmarkt entsprochen.

Ab dem Jahr 2014 habe sich der typisiert festgelegte Zinssatz jedoch als evident realitätsfern erwiesen. Der typisierte Zinssatz von jährlich 6% sei nicht mehr in der Lage, den durch eine späte Heranziehung zur Steuer entstehenden potenziellen Vorteil hinreichend abzubilden. Nach Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2008 habe sich ein strukturelles und nachhaltiges Niedrigzinsniveau entwickelt, das nicht mehr Ausdruck üblicher Zinsschwankungen sei. Dies ließe sich insbesondere an der Entwicklung des Basiszinssatzes festmachen. Dieser habe im Jahr 2008 noch bei über 3 % gelegen, sei jedoch bereits im Verlauf des Jahres 2019 auf 0,12 % gesunken. Seit Januar 2013 befinde er sich im negativen Bereich.

Die Verfassungsbeschwerde im Verfahren 1 BvR 2237/14 sei deshalb für den Zeitraum 2010 bis 2012 unbegründet und die Verfassungsbeschwerde im Verfahren 1 BvR 2422/17 sei nur für den Verzinsungszeitraum vom 1. Januar 2014 bis 14. Juli 2014 begründet. Für bis in das Jahr 2013 fallende Verzinsungszeiträume liege noch keine evident überschießende Wirkung der Vollverzinsung vor. Ein verfassungsrechtlich auffälliges Missverhältnis bestehe insoweit noch nicht. Auch das aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG abzuleitende Übermaßverbot sei insofern nicht verletzt.

Kommentierung:

Damit hat das BVerG die seit Jahren die Gerichte und das Fachpublikum beschäftigende Zinsfrage endlich entschieden. Zwangsläufig konnte sich das BVerfG nur mit in der Vergangenheit liegenden Veranlagungszeiträumen auseinandersetzen, weshalb es nun am Gesetzgeber liegt, für die Zeiträume ab 2019 eine Neuregelung zu schaffen. Hinsichtlich der genauen Höhe oder gar einer Obergrenze des neu zu regelnden Zinssatzes hat das BVerfG sich nicht geäußert. Aus Sicht der Steuerpflichtigen ist es bedauerlich, dass das BVerfG sich nicht dazu durchgerungen hat dem Gesetzgeber aufzugeben auch für die Verzinsungszeiträume vom 1. Januar 2014 bis zum 31. Dezember 2018 eine neue Regelung zu schaffen. Für diese Verzinsungszeiträume verbleibt der Finanzverwaltung die Möglichkeit evident überhöhte, verfassungswidrige Zinsen auf ausstehende Steuerforderungen zu erheben. Hier zeigen sich die vielfach in der Literatur immer wieder geäußerten Probleme mit Unvereinbarkeitsbeschlüssen des BVerfG, die nicht zu einer Nichtigkeit der Vorschrift führen. Dass die Regelung dabei auch für Habenzinsen weiterhin Gültigkeit beanspruchen kann, wird für die meisten Steuerpflichtigen nur ein kleines Trostpflaster sein. Das BVerfG beschränkt sich zum Schutz des Staatshaushaltes darauf, die Vorschriften zum Zinssatz für die Zeiträume 2014 bis 2018 fortgelten zu lassen.

Praktische Bedeutung hat der Beschluss damit ab dem Steuerjahr 2019 für Steuerpflichtige, deren Steuerbescheide noch nicht bestandskräftig (durch Einspruch, durch Vorbehalt der Nachprüfung oder durch einen Vorläufigkeitsvermerk) sind. Wie viele Steuerzahler tatsächlich betroffen sind, ist unklar. Es wird sich allerdings um zahlreiche Fälle handeln, weil die Finanzämter seit Mai 2019 die Zinsen in sämtlichen Steuerbescheiden wegen der unklaren Rechtslage nur vorläufig festgesetzt hatten. Diejenigen, deren 2019/20er-Steuerbescheide noch nicht bestandskräftig sind, damit insbesondere deren Steuerbescheide ab Mai 2019 ergingen, können eine Rückzahlung von Verspätungszinsen (§ 233a AO) erwarten. Gleichzeitig müssen diejenigen, die eine Steuererstattung in Steuerbescheiden für 2019 oder für die nachfolgenden Veranlagungszeiträume erhalten haben, den nach der vom Gesetzgeber zu treffenden Neuregelung überzahlten Zinsbetrag womöglich zurückzahlen.

Der Gesetzgeber ist nun verpflichtet, bis zum 31. Juli 2022 eine verfassungsgemäße Neuregelung zu treffen, die sich rückwirkend auf alle Verzinsungszeiträume ab dem Jahr 2019 erstreckt und alle noch nicht bestandskräftigen Steuerbescheide erfasst.

Für weitere Fragen in diesem Kontext steht Ihnen das Steuerrechtsteam von DLA Piper gern zur Verfügung. Rufen Sie uns gerne an oder schreiben Sie uns gerne eine E-Mail.

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