23. Oktober 2023Lesedauer 2 Minuten

Ist Bahnfahren Arbeitszeit?

Die Arbeitszeiterfassung war zuletzt durch das Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 13. September 2022 (Az. 1 ABR 22/21) in aller Munde. Nun sorgt ein Urteil des Verwaltungsgerichts Lüneburg (VG) zur Erfassung von Bahnfahrten als Arbeitszeit für Überraschung und Diskussionsbedarf.

 

Der Fall

Mit Urteil vom 2. Mai 2023 (Az. 3 A 146/22) stellt das VG fest, dass die Bahnreisezeiten der Mitarbeiter des klagenden Speditionsunternehmens als Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG) anzusehen sind. Entgegen der vom BAG verwendeten Beanspruchungstheorie sei nicht eine dem Gesundheitsschutz zuwiderlaufende Belastung entscheidendes Kriterium zur Anerkennung von Reisezeit als Arbeitszeit. Vielmehr müsse das Vorliegen von Arbeitszeit anhand eines Kriterienkatalogs gemäß der Arbeitszeitrichtlinie1  vorgenommen werden. Das VG wich bewusst von der Beanspruchungstheorie ab und kam nach eingehender Einzelfallprüfung zu dem Schluss, dass die Bahnfahrten als Arbeitszeit gelten. Es betonte hierbei an mehreren Stellen die Besonderheiten des Einzelfalls; insbesondere, dass der gesamten Tätigkeit der Fahrer des Speditionsunternehmens die Ableistung der Bahnreisezeiten immanent sei.

 

Hinweis für die Praxis:

Weder der EuGH noch das VG bewerten Bahnreisen pauschal als Arbeitszeit iSd ArbZG. Das VG nimmt vielmehr eine Einzelfallprüfung anhand der Begriffsbestimmung von Arbeitszeit im Sinne der Arbeitszeitrichtlinie vor und orientiert sich hierbei an einem Urteil des EuGH, das zur PKW-Fahrzeit von Außendienstmitarbeitern ergangen war. Das Urteil des VG entfaltet keine Außenwirkung, sondern gilt nur für die Verfahrensbeteiligten. Es ist also als Einzelfallentscheidung einzuordnen.

Gleichzeitig ist festzuhalten, dass die Beanspruchungstheorie des BAG die maßgeblichen Vorgaben des EuGH darüber, was Arbeitszeit im Sinne der Arbeitszeitrichtlinie ist, unberücksichtigt lässt. Die Entwicklung der Rechtsprechung ist daher weiterhin genau zu beobachten. Dies gilt umso mehr, als die Einhaltung der Arbeitszeit bei Tätigkeiten, die Reisezeiten beinhalten, durch das Urteil in den Fokus der Aufsichtsbehörden für Arbeitsschutz gerückt sein dürfte. Arbeitgeber, die Bahnreisezeiten aufgrund der Beanspruchungstheorie arbeitsschutzrechtlich nicht als Arbeitszeit einstufen, sollten jedenfalls klarstellen, dass während der Fahrten kein Weisungsrecht ausgeübt wird und die Arbeitnehmenden in der Gestaltung dieser Zeit frei sind.

Das noch nicht rechtskräftige Urteil ist hier abrufbar. Es wurde ein Antrag auf Zulassung der Berufung beim Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht gestellt.


1Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 04. November 2003