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13. Februar 2024Lesedauer 9 Minuten

Billiges Ermessen: Das unternehmerische Bedürfnis nach Flexibilität

Billiges Ermessen:

Das unternehmerische Bedürfnis nach Flexibilität

Nach der Einführung der AGB-Kontrolle ins deutsche Arbeitsrecht sind die Gestaltungsmöglichkeiten der Arbeitgeber stark begrenzt worden. Allgemeine Geschäftsbedingungen werden nur Bestandteil des Arbeitsvertrages, wenn sie wirksam vereinbart und in den Vertrag einbezogen wurden; individuelle Absprachen haben jedoch weiter Vorrang. Dadurch wurden die Möglichkeiten des Arbeitgebers, sich das Recht zur einseitigen Änderung oder Abweichung von der Leistung vorzubehalten, deutlich eingeschränkt. Deswegen sollten Arbeitgeber besonderes Augenmerk auf die verbleibenden Freiheiten legen. Insbesondere möchten wir hier das Institut des billigen Ermessens beleuchten, wonach die einseitige Bestimmung der Leistung durch eine Partei im Zweifel nach billigem Ermessen zulässig ist. Sollte die Bestimmung nicht billigem Ermessen entsprechen, ist sie für die andere Seite nicht verbindlich und sie kann verlangen, dass die Bestimmung per Urteil durch das Gericht getroffen wird.
Anders als teilweise angenommen, stellt diese Bestimmung der Leistung durch eine Partei keine Abweichung vom gesetzlichen Leitbild dar, sondern entspricht genau diesem, sofern die Grenzen des § 315 BGB beachtet werden.

Aufgrund unvorhersehbarer Entwicklungen und der Komplexität von Arbeitsverhältnissen ist es besonders schwer, diese im Vorhinein detailliert zu regeln. Deswegen wollen sich Arbeitgeber in ihren Arbeitsverträgen gewisse Freiheiten vorbehalten, um auf unvorhersehbare Umstände und Entwicklungen adäquat und flexibel reagieren zu können. Besonders relevant wird dies bei der Ausübung des Direktionsrechts (wie z.B. bei Versetzungen) oder bei der Gewährung variabler Vergütungen. Werden diese Aspekte an Ermessensentscheidungen geknüpft, erhält der Arbeitgeber seinen gewünschten Spielraum und kann besser reagieren, muss dabei jedoch die Grenzen der „Billigkeit“ wahren. Die Ermessensentscheidung unterliegt dabei der vollen gerichtlichen Kontrolle.

Inhaltskontrolle und Ausübungskontrolle

Die Überprüfung einer Ermessensentscheidung geschieht in zwei Schritten; der Inhaltskontrolle und der Ausübungskontrolle. Zunächst muss überprüft werden, ob die vertragliche Vereinbarung des Leistungsbestimmungsrechts überhaupt wirksam ist (Inhaltskontrolle). Bei Formulararbeitsverträgen geschieht dies am Maßstab der AGB-Kontrolle nach §§ 305 ff. BGB; zudem können Treu und Glauben (§ 242 BGB) oder Sittenwidrigkeit (§ 138 BGB) zur Unwirksamkeit der Vereinbarung führen.
Danach findet im zweiten Schritt die Ausübungskontrolle statt. Diese richtet sich nach dem Maßstab der Billigkeit aus § 315 BGB, sofern nichts anderes vereinbart ist.
Vor diesem Hintergrund scheint es möglich, im Arbeitsvertrag einen anderen, weitergehenden Maßstab für die Leistungsbestimmung wählen zu können, wie z.B. das „freie Ermessen“. Es ist jedoch äußerst fraglich, ob dieser Maßstab im Arbeitsvertrag wirksam vereinbart werden kann, da so vom gesetzlichen Leitbild abgerückt wird und dies einen unangemessenen Nachteil (§ 307 BGB) für die Mitarbeitenden darstellen dürfte. In der Praxis ist es deswegen wichtig, stets auf das „billige Ermessen“ abzustellen, um zu verhindern, dass ein Gericht bereits die Klause selbst als unwirksam erachtet.

Neben den vertraglich geregelten gibt es  auch einige gesetzlich geregelte einseitige Leistungsbestimmungsrechte wie z.B. im Rahmen der betriebliche Altersversorgung oder bei personellen Auswahlentscheidungen. Besonders relevant ist hier das Direktionsrecht des Arbeitgebers nach § 106 GewO, wonach dieser nach billigem Ermessen einseitig über Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung bestimmen kann. Da die Leistungsbestimmung hier nicht auf einer vertraglichen Vereinbarung beruht, entfällt die Inhaltskontrolle und es bedarf lediglich der Prüfung, ob die Bestimmung der Leistung im konkreten Fall der Billigkeit entspricht (Ausübungskontrolle).

Berücksichtigung beiderseitiger Interessen

Doch wann entspricht eine Entscheidung der Billigkeit und welcher Zeitpunkt ist maßgeblich? Das BAG hat folgende Faustformel aufgestellt: „Die Grenzen billigen Ermessens sind gewahrt, wenn der Arbeitgeber bei seiner Entscheidung die wesentlichen Umstände des Einzelfalls abgewogen und die beiderseitigen Interessen angemessen berücksichtigt hat“. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Bewertung der Billigkeit ist immer der Zeitpunkt, in dem der Arbeitgeber die Ermessensentscheidung zu treffen hat. Der Begriff ist weit gefasst, was die für den Arbeitgeber notwendige Flexibilität schafft, aber kaum Aufschluss darüber gibt, wann eine Entscheidung billigem Ermessen entspricht und wann nicht. Hierfür hat das BAG über Jahre hinweg Kriterien herausgearbeitet, die bei der Ermessensausübung zu beachten sind. Demnach muss der Arbeitgeber seine eigenen Interessen und die des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin ermitteln, um sie im nächsten Schritt sorgfältig gegeneinander abzuwägen, wobei insbesondere die Grundrechte der Parteien sowie der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz miteinzubeziehen ist.

Keine Pflicht zur Begründung der Leistungsbestimmung

Hat der Arbeitgeber die Leistung bestimmt, besteht für ihn keine Verpflichtung die Entscheidung zu begründen oder die Abwägungskriterien darzulegen; Es kommt allein auf die objektive Billigkeit der Entscheidung an. Da diese Entscheidung jedoch vollständig gerichtlich überprüfbar ist und der Arbeitgeber sowohl die Darlegungs- als auch die Beweislast für die Billigkeit der Leistungsbestimmung trägt, muss er spätestens im Falle der gerichtlichen Überprüfung alle Abwägungskriterien sowie deren Gewichtung darlegen. Ansonsten wird das Gericht die Bestimmung als unbillig und unwirksam erklären und eine eigene Leistungsbestimmung vornehmen. Im Sinne einer Konfliktvermeidung ist es ratsam, die Mitarbeitenden bereits anfangs über die für die Entscheidung maßgeblichen Gründe zu informieren, sodass diese die Entscheidung besser nachvollziehen und überhaupt erst einschätzen können, ob die Bestimmung im Rahmen des billigen Ermessens ergangen ist.

Für die Ausübung des Leistungsbestimmungsrechts bestehen keine Formvorschriften, sie kann durch formlose Erklärung gegenüber dem anderen Teil geschehen. Es ist jedoch zu beachten, dass die Leistungsbestimmung als Gestaltungsrecht weder unter bestimmte Bedingungen gestellt noch widerrufen werden kann.

Keine Pflicht zur Befolgung unbilliger Weisungen

Die  Leistungsbestimmung ist für den anderen Teil nur verbindlich, wenn sie billigem Ermessen entspricht. Ob unbillige Weisungen zu befolgen sind, war lange Zeit umstritten. Das BAG hat jedoch 2017 geklärt, dass der Arbeitnehmende solche Weisungen nicht (und auch nicht vorläufig bis zu einem entgegenstehenden Urteil) zu befolgen hat. Arbeitnehmende haben dann ein Leistungsverweigerungsrecht und können verlangen, dass das Gericht die Bestimmung durch Urteil trifft. Hierbei trägt jedoch der Arbeitnehmende das Risiko, eine Weisung nicht zu befolgen und sich so u.U. arbeitsrechtlichen Sanktionen auszusetzen, wenn ein Gericht die Weisung entgegen derr Erwartung als wirksam einstuft.

Die Entscheidungshoheit des Gerichts über die Leistungsbestimmung erscheint zunächst als eine starke Beschränkung des Handlungsspielraums des Arbeitgebers. Tatsächlich werden aber nur die Grenzen gesetzt, in denen sich der Arbeitgeber bewegen kann. Der Arbeitgeber muss nämlich nicht die Entscheidung treffen, die das Gericht als „richtig“ ansieht, sondern eine im Rahmen des billigen Ermessens vertretbare Entscheidung. Möchte der Arbeitgeber also sicherstellen, dass das Gericht nicht selbst eine Leistungsbestimmung vornimmt, muss er seine Entscheidung vor Gericht gut darlegen und verteidigen können. Hierbei sollte keine falsche Zurückhaltung geübt werden, da Gerichte dazu tendieren, eine nach ihrer Ansicht nicht ausreichende Erläuterung der Leistungsbestimmung und deren Billigkeit als Anlass dafür zu nehmen, der Klage stattzugeben und selbst die Leistung zu bestimmen.

Billiges Ermessen beim Ortswechsel

Streit über die Billigkeit einer Weisung entsteht besonders häufig, wenn der Arbeitgeber sein Direktionsrecht ausüben möchte, um einen Arbeitnehmer oder eine Arbeitnehmerin auf einen anderen Arbeitsplatz zu versetzen. Das gilt vor allem dann, wenn die Arbeit an einem gänzlich anderen Ort verrichtet werden soll und hierfür ggf. sogar ein Umzug des Arbeitnehmenden erforderlich wird. Zunächst ist dabei zu fragen, ob im Arbeitsvertrag ein konkreter Einsatzort oder sogar eine Versetzungsklausel vereinbart ist. Besteht kein konkreter Einsatzort, kann der Arbeitgeber die Versetzung bereits aufgrund seines Direktionsrechts vornehmen, denn er kann Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung nach billigem Ermessen näher bestimmen. Trotzdem muss diese Bestimmung der Ausübungskontrolle standhalten, sodass der Arbeitgeber nicht jeden beliebigen Arbeitsort zuweisen kann. Das BAG stellt klar, dass die wechselseitigen Interessen nach verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Wertentscheidungen, den allgemeinen Wertgrundsätzen der Verhältnismäßigkeit und Angemessenheit sowie der Verkehrssitte und Zumutbarkeit abgewogen werden müssen, wofür immer die Umstände des Einzelfalls entscheidend sind.

Mit einzubeziehen sind u.a. die Vorteile einer Regelung, die beiderseitigen Bedürfnisse sowie die Risikoverteilung zwischen den Parteien, die Vermögens- und Einkommensverhältnisse oder soziale Aspekte wie familiäre Pflichten. Für diese Abwägung ist auch das der Entscheidung zugrundeliegende unternehmerische Konzept und die sonstigen Entscheidungsgründe von besonderer Bedeutung. Es darf angesichts der für den Arbeitnehmenden folgenden Nachteile jedoch keinesfalls so wirken, als sei die Entscheidung willkürlich oder missbräuchlich ergangen.

Variable Vergütung im Ermessen

Weiterer häufiger Streitpunkt ist das Leistungsbestimmungsrecht im Rahmen von variablen Vergütungen, wo nicht nur über die Höhe der zu zahlenden Vergütung, sondern auch über die Festlegung von Zielvorgaben, von deren Erreichen der Zahlungsanspruch abhängt, gestritten wird.

Neben Bonuszahlungen betrifft dies auch sonstige Sondervergütungen wie Weihnachtsgeld oder Gratifikationen. Weder Art noch Höhe einer Bonuszahlung müssen nach der Rechtsprechung des BAG abschließend im Arbeitsvertrag geregelt sein, der Arbeitgeber kann sie selbst bestimmen. Hierfür unterliegt er wiederum den Grenzen des billigen Ermessens.In der Praxis ist die Vereinbarung von zusätzlichen Kriterien häufig anzutreffen, die bei der Ermessensentscheidung zu beachten sind, wie etwa die Berücksichtigung des Erfolgs des Unternehmens oder der individuellen Leistung des Arbeitnehmenden.

Zahlungsklage oder Auskunftsklage?

Entsteht Streit über die Höhe der Sonderzahlung, kann der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin vor dem Arbeitsgericht unmittelbar auf Zahlung klagen. Sollte das Arbeitsgericht ebenfalls von einer unbilligen Arbeitgeberentscheidung ausgehen, so setzt es die Höhe der zu zahlenden Sondervergütung durch Urteil fest. Der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin wird in diesen Fällen meist vortragen, dass er oder sie einen Vorjahresbonus in bestimmter Höhe erhalten hat und die Leistung mindestens genauso gut war wie im Vorjahr. Tritt dem der Arbeitgeber nicht substantiiert entgegen, ist es wahrscheinlich, dass das Gericht im Zweifel den Vorjahresbonus erneut festsetzen wird. Sind nach der Vereinbarung im Arbeitsvertrag nicht öffentliche Kennzahlen des Unternehmens als Grundlage für die Bemessung des Bonus heranzuziehen, kann der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin diese Auskunft ebenso einklagen, um dann im nächsten Schritt Zahlungsklage zu erheben.

Zielvorgaben werden im Gegensatz zu Zielvereinbarungen einseitig vom Arbeitgeber festgelegt, wobei er die Grenzen billigen Ermessens zu beachten hat. Gerichtlicher Klärung bedürfen vor allem die Fälle, in denen der Arbeitgeber gar keine oder fehlerhafte Ziele festgelegt hat. Als fehlerhaft gilt z.B. die Festlegung von Zielen, die von vornherein unerreichbar gewesen sind. Instanzgerichte tendieren in diesen Fällen dazu, die unterlassene oder fehlerhafte Zielvorgabe als unbillig einzuschätzen und auf Grundlage der Ziele aus früheren Perioden ein eigenes Ziel festzusetzen. Ob das BAG diese Handhabung unterstützt, ist bislang offengeblieben. Es hat jedoch ausdrücklich angenommen, dass in solchen Fällen Schadensersatz nach § 280 BGB verlangt werden kann.

In der Praxis ist es also essentiell, die Ermittlung der jeweiligen Interessen, deren Gewichtung und alle anderen Gesichtspunkte, die man für die Begründung der Ermessensentscheidung heranziehen kann, ordentlich darlegen zu können, um eine gerichtliche Leistungsbestimmung oder einen Schadensersatzanspruch zu verhindern.